Michael Carl

Keine Zeit für Standards

»Wir können nicht mehr sagen: Das habe ich jetzt gelernt, das mache ich jetzt die nächsten 25 Jahre.«

Im Fokus

Keine Zeit für Standards

Technologie ist der Treiber. Mittendrin sind die Menschen, die sich verändern wollen oder müssen. Sie müssen das Bedürfnis haben, dazu zu lernen, egal auf welcher Karrierestufe.

 

How tomorrow works - wie sieht die Arbeitswelt von morgen aus? Welche Chancen bietet die Digitalisierung und welche Herausforderungen hält sie bereit? Impulse für die Welt von morgen gibt Zukunftsforscher Michael Carl, vom carl institute for human future in Leipzig.

 

Wir stehen vor einem Jahrzehnt der Krisen. Klima, Demografie und vor allem der Wandel der Arbeit werden gründlich mit alten Selbstverständlichkeiten aufräumen. Wenn wir dieses Jahrzehnt der Krisen gut für uns nutzen, dann kann es auch eine gute Nachricht bergen. Das Zusammenbringen von Technik und Mensch ist zentral für das Gelingen guter Arbeit. Beide dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden. Das, was wir heute an technologischen Mitteln haben und in kommenden Jahren zur Verfügung haben werden, muss helfen, Kunden und ihre Bedürfnisse umso besser zu verstehen. Stand jetzt haben wir die Kunden-Beziehung. Aber wir müssen genau da tiefer reingehen und Kunden signalisieren: Wir verstehen immer genauer deine Bedürfnisse. Das erfordert ein Umdenken, weg mit dem Fokus auf die eigenen Finanzprodukte. Stattdessen muss die Konzentration auf den Kunden liegen. Dafür müssen die Mitarbeiter sensibilisiert werden. Daten in Systeme eintippen, Formulare ausfüllen – diese Bereiche werden stark automatisiert werden. Folgerichtig darf niemand seine Zeit mit diesen Tätigkeiten verschwenden. Das ist bekannt.

 

Aber Carl geht ans Eingemachte, wenn er fragt, wie viele Betreuende von Firmenkunden in den Filialen von sich aus zum Telefon greifen. Weil sie das Gefühl haben, dass sie nicht nur verstanden haben, was ein Firmenkunde machen möchte, sondern sogar einen Tick besser wissen, über welche Themen jetzt zu reden ist. Wie viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gehen diesen Schritt und werden selbst initiativ?

 

Technologie ist ein Treiber. Mittendrin sind Menschen, die sich verändern wollen oder müssen. Welche Aufgaben kommen auf die Menschen zu? Digitale Fähigkeiten sind Schlüsselqualifikationen. Aber das allein wird nicht reichen. Wichtig ist, das Lernen zu lernen, das Bedürfnis zu haben, nie ausgelernt zu haben, egal auf welcher Karrierestufe.

 

Die Zeit für Standards ist abgelaufen. „Wir können nicht mehr sagen: Das habe ich jetzt gelernt, das mache ich jetzt die nächsten 25 Jahre.“ Problematisch ist, dass wir das in unseren Unternehmenskulturen noch nicht verinnerlicht haben. Wir tun immer noch so, als könnten wir Menschen am Anfang ihres Berufslebens ausbilden, und dann behalten wir sie 40 Jahre. Wahrscheinlich hat das noch nie gepasst und heute passt es ganz bestimmt nicht mehr. Überfachliche Kompetenzen werden wichtiger als fachliche Kompetenzen.

 

Wesentlich bei der Digitalisierung ist, dass Innovationen dort entstehen, wo man Kompetenzen kombiniert. Kollaboration im Unternehmen und in Zusammenarbeit mit anderenMarktbegleitern, sogar Wettbewerbern, wird wichtig. Denn allein wird kaum jemand diese Herausforderungen bewältigen können.

 

Das ist die positive Antwort: Niemand muss morgen alles alleine anders tun. Wir können diesen Weg zusammen gehen, da geht keiner verloren. Wenn das verstanden ist, geht eine tolle neue Welt auf.

 

 

 

Michael Carl ist Gründer und Direktor des carl institute for human future in Leipzig.

Er widmet sich mit seinem Institut der Frage nach der Zukunft des Menschen in den Lebens- und Arbeitswelten der kommenden Jahre und begleitet Unternehmen, Teams und Organisationen in grundlegenden Veränderungsprozessen. Schwerpunkt seiner Forschungen und Publikationen ist es, die Zukunft stärker ins Gespräch zu bringen. Er ist ein gefragter Keynote-Speaker zu Trend- und Zukunftsthemen sowie Autor umfangreicher Studien, Trendanalysen und mehrerer Bücher. Michael Carl ist Theologe und Journalist, war Redakteur und Moderator und arbeitete viele Jahre für die ARD. In verschiedenen verantwortlichen Rollen wirkte er daran mit, den 2b AHEAD ThinkTank zu Europas größtem unabhängigen Zukunftsforschungsinstitut zu entwickeln, und berät seit Jahren in Fragen der Strategie- und Organisationsentwicklung.

Zitat

»WENN WIR IN FÜNF JAHREN NOCH DA STEHEN, WO WIR HEUTE SIND, HABEN WIR KAUM EINE EXISTENZBERECHTIGUNG.«

Im Gespräch

Woran denken Sie, wenn Sie den Begriff Zukunft hören?

Ich glaube, wir stehen am Anfang eines Jahrzehnts der Krisen. Und ich halte das für eine gute Nachricht. Ich denke Zukunft immer als eine zu gestaltende Zukunft. Das scheint mir der entscheidende Punkt zu sein. Wir nehmen Abschied von Selbstverständlichkeiten und erhalten Gestaltungsspielraum. Gesellschaftlich wird dieser Raum in den kommenden Jahren unglaublich groß. Daraus leitet sich fast eine Verpflichtung ab, miteinander über Zukunft in Dialog zu treten. 

 

Sie sind Zukunftsforscher: Was könnte sich in zehn Jahren bei Ihnen verändert haben?

Das, was ich heute Arbeit nenne, hat vielleicht gar nicht so viel damit zu tun, wie viele andere Menschen Arbeit erleben. Zeit zählen, an bestimmten Orten sein und Urlaubszeiten in Listen eintragen – so etwas habe ich weitestgehend aus meinem Leben verbannt. Ich möchte mich mit sinnvollen Dingen beschäftigen. Das, was wir heute punktuell sehen, wird in zehn Jahren in voller Breite sichtbar sein. Es wird eine Rarität sein, dass man zehn Jahre lang ein und denselben Beruf ausübt. Werde ich in zehn Jahren noch Zukunftsforscher sein? Wenn ich mich selbst beim Wort nehme, womöglich nicht.

 

Wie kommen wir zu sinnstiftender Arbeit?

Wir müssen nach Organisationen und Konstellationen Ausschau halten, für die wir einen sinnvollen Beitrag leisten können. Ich stelle mir immer zwei Fragen und gebe darauf hemmungslos subjektive Antworten. Erstens: Habe ich den Eindruck, dass ich mit dem, was ich tue, einen tatsächlichen Unterschied mache? Zweitens schaue ich auf mein Wohlbefinden: Geht es mir nach der Arbeit besser als vorher? Ich möchte, dass meine Tätigkeit meine Energiebilanz auflädt. Das ist ein ziemlich hoher Anspruch, aber seit ich einen hohen Anspruch an mich selbst formuliere, geht es mir deutlich besser.

 

Und wie stiften wir durch unsere Arbeit Sinn für andere?

Exemplarisch sehe ich vor meinem inneren Auge eine Bank, die kein einziges fertiges Angebot in der Schublade liegen hat. In dieser Bank geht es auch nicht primär um Geld, sondern darum, dass Menschen mit dieser Institution interagieren, weil sie ihr vertrauen. Klassisches Banking gibt es zukünftig vielleicht auch noch, aber eigentlich werden die Banken verstanden haben, dass Menschen andere Bedürfnisse haben. So könnte man schauen: Was braucht eine Kommune, um zu prosperieren? Es gibt sicher gute Gründe, warum es nur eingeschränkt möglich ist, sich mit einem Finanzinstitut auf eine wirklich innovative, inspirierende Reise zu begeben. Aber es geht. Es gibt natürlich Ungewissheiten: Wir wissen nicht, wohin die Reise uns führt. Wir wissen noch nicht einmal, ob sie sich rechnet. Aber wir sollten uns trotzdem auf den Weg machen. Denn wir wissen: Wenn wir in fünf Jahren noch da stehen, wo wir heute sind, haben wir kaum eine Existenzberechtigung.

 

Im Kopf

Sinn

Wie und woran wir arbeiten, hat maßgeblichen Einfluss auf die Gesellschaft, die uns umgibt. Wenn wir über Zukunft nachdenken, stellt sich daher die Frage, in welcher Gesellschaft wir leben und an welcher Gesellschaft wir arbeiten wollen. Wofür wollen und sollten wir die Zeit nutzen, die uns zur Verfügung steht? Die Suche nach Sinn kann eine mühsame, aber lohnenswerte sein. Vom Ergebnis profitieren nicht nur wir als Individuen, sondern auch die Menschen, mit denen wir zu tun haben. Deshalb müssen wir über die Arbeit sprechen, die wir zukünftig verrichten wollen. Über ihre Funktion, ihren Inhalt, ihren Sinn. Mit Michael Carls Worten formuliert: „Wir müssen darüber nachdenken, wie wir uns auf eine echte Lernreise rund um die Arbeit der Zukunft begeben.“ Das klingt nach dem Startpunkt für eine sehr sinnvolle Zukunftsimagination. Und eine umso sinnvollere Zukunft.