Das Gefühl von etwas Großartigem

Christoph Bornschein

Christoph Bornschein ist Mitgründer und Geschäftsführer der Agentur für digitale Markenentwicklung TLGG und TLGG Consulting.
An den Standorten New York und Berlin zählt das Team mittlerweile 250 kluge Köpfe. Als Autor zahlreicher Fachbeiträge und Kolumnist in »Handelsblatt« und »Manager Magazin« schreibt Bornschein regelmäßig zu den wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Konsequenzen andauernder Transformation. Fundiert und meinungsstark ist er aktiver und praktischer Treiber der digitalen Wirtschaft. Auf seine Expertise setzen auch der Aufsichtsrat der Talentsconnect, der Verwaltungsrat der LichtBlick SE sowie die Beiräte von Lufthansa Innovation Hub und Kubikx. 2021 wurde er vom World Economic Forum zum Young Global Leader ernannt.

Wir sprechen für eine Publikation, die #ZukunftsMacherInnen heißt. Was haben Sie unmittelbar vor diesem Gespräch gemacht?
Eine Manöverkritik mit meinem Team. Ich komme also gerade aus einer Feedback-Runde.

Von Ihnen initiiert?
Von mir initiiert. Davor habe ich zu Mittag eine fantastische Ramen-Suppe gegessen.

Mittagessen ist etwas sehr Routiniertes, Feedback-Runden sind es für einige Organisationen auch. Wie kommen Sie bei Aufgaben ins Machen, die nicht so routiniert ablaufen? Wie werden Sie aktiv, wenn Sie eigentlich keine Lust haben?
Es gibt den Zustand keine Lust nicht. Ich glaube sehr an Flow-Prinzipien und daran, dass man nur keine Lust auf etwas Bestimmtes hat, aber immer Lust auf irgendetwas anderes. Und deshalb ventiliere ich einfach Aufgaben um mich herum, bis ich zu dem im Moment stattfindenden Flow die passende Aufgabe habe. Wenn du ein Portfolio an Aufgaben hast, macht eine immer Lust.

Wann haben Sie zuletzt etwas Neues ausprobiert, das Ihnen vorher Unbehagen bereitet hat?
Ich habe gestern gerade meinen Fahrstuhl nachrüsten lassen. Das hat mir sehr viel Unbehagen gemacht, weil Fahrstühle die ungefähr unsmartesten Geräte der Welt sind. Wenn Menschen mich in meiner Wohnung besuchen wollten, musste man bisher den Fahrstuhl nämlich zuerst leer hoch und dann runter schicken, bevor jemand damit in meine Wohnung fahren konnte – eine unfassbare Verschwendung. Eigentlich wollte ich nur dieses Problem gelöst haben und musste zusammen mit dem Hersteller des Fahrstuhls feststellen, dass wir das nicht lösen können. Um es dann doch zu lösen, habe ich mich mit der Hardware beschäftigt. 
Die Funktionen eines Fahrstuhls lassen sich heutzutage eigentlich über Apps, Connectivity und Schnittstellen zu Apple Home steuern. Doch das können Fahrstühle interessanterweise nicht pauschal. Hierfür muss man sie jailbreaken. (Anm. d. Redaktion: Gemeint ist das Aufbrechen von vorher eingebauten Barrieren und Betriebssystemen.) Jetzt ist mein Fahrstuhl smart.

Ist die Zukunft auch smart?
Ich glaube, die Zukunft ist zumindest mal eine Kombination aus Hardware und Software. Ob die Software dann am Ende Smartness oder totale Kontrolle mit sich bringt, das hat mit Intentionalität zu tun. Die übliche »Smart-Denke« heute setzt immer voraus, dass eine Technologisierung automatisch alles besser macht und gut für die Gesellschaft ist – was aber nicht der Fall ist. Wird die Zukunft bestimmt davon sein, dass alles, was Hardware ist, auch eine Software-Komponente hat? Ja, auf jeden Fall. Ist Smartness etwas, worüber wir als Gesellschaft noch entscheiden müssen? Ja, auch.

Welche Rolle spielt die digitale Transformation für die Bank der Zukunft?
Nun, am Ende ist es die überlebenswichtige Frage. Wenn du dir die Sparkassen anguckst, ist das demokratische Prinzip, eine Vollbank – also alles für jeden – zu sein, interessant. Die Wahrscheinlichkeit, die Wettbewerbsposition alles für jeden in die Zukunft zu retten, ist jedoch gleich null. Die große Aufgabe ist, dass sich die Sparkasse in ihrer digitalen Transformation irgendwann entscheiden muss, was sie für wen sein möchte.

Welche Frage muss sich eine Organisation stellen, wenn es um das Finden der eigenen Zukunftsnische geht?
Die Frage ist auch: Ist es eine Nische oder ist es eine Summe von Nischen, die dann in Summe wieder groß sind? Am Ende ist es immer eine klare Veränderungsbeobachtung dessen, was ich Kunde nenne. Das heißt: Wer sind meine Kunden eigentlich? Warum sind sie meine Kunden und was ist ihre Verhaltensveränderung, entlang der ich weiterhin das beste Angebot machen kann? Und dann ist es aus meiner Sicht tatsächlich vor allem eine Frage der Portfolio-Strategie, die unterschiedlich stark gewichtete Wetten mit unterschiedlich hohen Investitionen auf bestimmte Geschäftsfelder nebeneinander packt.
Geschlossene Systeme verlieren in einem Umfeld technologischer Veränderung. Früher war das Ganze mal ein Wettbewerbsprinzip, über alle Ebenen des eigenen Produktes für alle ein Angebot zu haben. In Zukunft zum Konzept »Nur sieben Dinge im Portfolio« überzugehen, ist meiner Meinung nach die entscheidende Strategie. In einem dieser Portfolio-Bereiche kann man dann marktbeherrschend werden und bleiben. Oder in zwei. Oder in vier.

Denken Sie denn über Zukunft nach?
Da ich mein gesamtes Leben, also zumindest mein gesamtes Berufsleben, mit der Erforschung des Einflusses von Technologie auf Gesellschaft und Wirtschaft zu tun habe, ist Zukunft das, was ich den ganzen Tag lang mache. Es geht letztlich immer darum, ein besseres Gefühl davon zu haben, wie Technologien uns beeinflussen werden und können; und zwar utopisch, dystopisch und in allen Facetten dazwischen. Und dann geht es am Ende um die Frage, welche Art von Einfluss ich da nehmen will und darf.

Nehmen Sie Einfluss?
Am Ende würde ich immer behaupten, dass ich eine wünschenswerte Zukunft lieber herstelle als eine nicht wünschenswerte Zukunft. Das Problem ist, dass natürlich auch ich einem Bias, also einer Wahrnehmungsverzerrung, unterliege und mir deswegen immer die Frage stellen muss: Ist das, was ich für wünschenswert halte, genauso für alle anderen wünschenswert? Also versuche ich, im Rahmen der gebiasten Möglichkeiten, die ich habe, eine Art von Inklusion in Wachstum zu bringen.

Welche Stimmen würden Sie gerne vermehrt in Ihre Zukunftsüberlegungen inkludieren?
Richtig gute Frage. Eine der großen Inklusionsfragen unserer Zeit ist: Wie kann man die Menschen mitnehmen, die Angst vor der Zukunft haben und die Zukunft für etwas wahnsinnig Bedrohliches halten? Das hat viel mit Bildung und viel mit Inklusion in gesellschaftliche Teilhabe zu tun. Wie kannst du Menschen mitnehmen, Zukunft irgendwie für positiv gestaltbar zu halten und nicht für potenziell gefährlich? Ich bin sehr überzeugt davon, dass das Gestaltungsvermögen für die Zukunft unserer Gesellschaft davon abhängt, ob uns die demokratische Inklusion gelingt und ob wir es tatsächlich schaffen, demokratische Entscheidungsprozesse rund um Zukunftsausprägungen auch mit denen, die heute marginalisiert sind, aushandeln zu können.

Wie haben Sie sich als Kind Zukunft vorgestellt und was davon ist eingetreten?
Ich bin ja ein Kind der frühen Achtziger. Ich hatte in den späten Achtzigern und frühen Neunzigern einen PC, der in einer für damalige Verhältnisse unfassbaren Geschwindigkeit unglaubliche Dinge machen konnte. Ich konnte mir anhand dieser Dinge gut vorstellen, dass diese Technologie irgendwie die Welt dominieren würde und dass sie ganz beeindruckenden, aufregenden Kram machen würde, ohne dass ich auch nur ansatzweise hätte definieren können, wie der beeindruckende, aufregende Kram aussehen würde.

Ist beeindruckender Kram entstanden?
Beeindruckender Kram ist entstanden. Und noch viel mehr und viel schneller, als ich das gedacht hätte. Ich glaube, dass diese nicht rationale Neugier bei mir immer etwas ausgemacht hat. Ich habe Twitter zu einem sehr frühen Zeitpunkt benutzt. Man kann sich die eigene User-Nummer bei Twitter ansehen – und ich habe eine dreistellige. Damals machte das überhaupt keinen Sinn. Es war ein absolut nutzloses Tool, aber irgendwie war da eine Ebene von: Wow, irgendwas Großartiges könnte es machen. Ich weiß nicht genau was, aber irgendwas Großartiges könnte jetzt damit passieren. Und so habe ich immer auf Technologien geguckt. Mit einem Gefühl von: Das wird echt verrückten Kram machen.

Welche Rolle spielt Bauchgefühl, um Zukunft zu gestalten?
Eine viel größere als Ratio, glaube ich. Eine lineare, rational getriebene und strukturierte Beeinflussung der Zukunft ist schon möglich. Ich glaube aber, dass die allermeisten Sachen, die einen echten Unterschied gemacht haben, bei mir intuitive Veränderungen waren.

Was charakterisiert eine:n Zukunftsmacher:in für Sie?
Die Frage ist, ob man den Teil Macher:in oder den Teil Zukunft betont. Ich glaube, dass es am Ende ein Glaube an den Fortschritt ist und daran, dass Fortschritt Verbesserung sein kann. Dann ist es grundsätzlicher Gestaltungswille, nämlich etwas gestalten zu wollen und sich nicht beweisen zu wollen, dass es in der Vergangenheit doch immer genau richtig war und dass es in der Zukunft noch so bleiben wird. Und dann ist es die Schaffenskraft, eben auch etwas umsetzen zu wollen.

Sie haben vorhin ein paar Mal den Begriff »beeindruckend« fallen gelassen. Zum Abschluss: Was müsste eine Sparkasse tun, um Sie zu beeindrucken?
Wenn man das auf einer sehr hohen Ebene betrachtet, würde es bedeuten, dass sie auf eine beeindruckende Art und Weise die Möglichkeiten von Technologie umarmt und nicht ablehnt. Es gibt keinen Beweis, dass Menschen Filialen wollen, in denen Berater sitzen müssen. Weil etwas mal ein Erfolgsprinzip war, bedeutet es nicht, dass es dies auch immer sein wird.

Zukunft machen

Menschen mitnehmen

Müssen wir tatsächlich Menschen in die Zukunft mitnehmen? Sie kommt doch sowieso. Aber welche Zukunft? Zwischen Utopie und Dystopie liegt eine große Vielfalt an möglichen Zukünften. Wir sollten uns schon genau fragen, auf welches Szenario wir hinarbeiten wollen. Und dafür müssen wir Menschen mitnehmen. Damit sie Zukunft auch mitgestalten. Zukunft und der Glaube an diese ist vor allem eine Frage der Perspektive und der Inklusion im Heute: Wer sich ausgegrenzt und nicht gehört fühlt, wird weder an die Zukunft glauben noch diese gestalten wollen. Eine Zukunft, die nicht zugänglich erscheint, empfinden Menschen als nicht wünschenswert oder sogar als bedrohlich. Doch wenn wir Angst vor der Zukunft haben, uns ausgegrenzt und nicht gehört fühlen, erscheint das Gestern erstrebenswerter als das Morgen. Wir blicken nur noch auf das, was wir verlieren können. Und nicht mehr auf das, was sich gewinnen lässt.