Kolumne Pascal Finette

Kolumne: Pascal Finette

ITmagazin 2/2020

Die Macht der schwachen Signale

Von Pascal Finette

Um sich in einer von weitreichenden Unsicherheiten geprägten Gegenwart und den anstehenden Veränderungsprozessen einer Zukunft nach Covid-19 zurechtzufinden, müssen Führungskräfte lernen zu denken (und sogar zu führen) wie Zukunftsforscher. Beginnen können sie dabei mit einem Ansatz, den die Zukunftsforscherin Amy Webb beschreibt als »Zuhören, wie die schwachen Signale sprechen«.

Solche schwachen Signale sind frühe, unausgereifte und oft zutiefst enttäuschende erste Vorboten einer Technologie oder eines Trends. Man denke beispielsweise an jedes Elektroauto vor dem Tesla Model S, an Google Glass, Internetzugang per Wählverbindung und Chatportale, die Enthüllung des ersten iPhones im Jahr 2007. Dies alles waren schwache Signale, die in ihrer Anfangszeit noch nicht annähernd so aussahen wie die wegweisenden Game-Changer, die sie einmal werden sollten.

In einer Welt, in der selbst das Tempo des Wandels kontinuierlich beschleunigt wird, wird es für uns heute immer wichtiger, ein Verständnis dafür zu entwickeln, wohin wir uns bewegen, und effektiv zu kommunizieren, in welche Richtungen wir uns bewegen, und diese Erkenntnisse auch präzise kommunizieren zu können. Quasi gestern noch haben wir neue Produkte und Dienstleistungen erschaffen. Heute stellen wir bereits komplette Branchen auf den Kopf und imaginieren neue Wirtschaftszweige. Morgen werden wir erleben, wie Menschen, Organisationen und Regierungen unter zunehmenden Druck stehen werden, sich den Veränderungen anzupassen. Der Auftrag an unsere Führungspersönlichkeiten besteht darin, schon heute zu entdecken, worauf es morgen ankommen wird, und dann unseren Organisationen und Gesellschaften dabei zu helfen, sich im Rhythmus einer sich rasch entfaltenden Zukunft zu verändern.

 

LERNEN, FRÜHE INDIKATOREN ZU ERKENNEN

Um die Gefahr zu verringern, dass die Zukunft in ihrer Entfaltung uns die Sicht auf die Dinge verdecken wird, müssen wir lernen, solche frühen Indikatoren zu erkennen. Nutzen Sie Ihre kindliche Neugierde und erkunden Sie, woran manche fortschrittlichen Köpfe an den Rändern der etablierten Disziplinen schon jetzt arbeiten: Gehen Sie auf Spurensuche bei Wissenschaftlerinnen und Künstlern, bei Aktivistinnen und Bastlern – doch, wenn Sie das »Neue entdecken, dann seien Sie auf der Hut, um nicht einem Denkmuster zu verfallen, das so eine starke Suggestivkraft hat, dass es bereits einen Namen bekommen hat: Amara’s Law. Ein populärer Ausspruch von Roy Amara vom Institute for the Future im Silicon Valley besagt: »Wir neigen dazu, die kurzfristigen Effekte einer Technologie zu überschätzen und ihre langfristigen Auswirkungen zu unterschätzen«. Man gerät so leicht in Euphorie über ein schwaches Signal und vergisst dann, dass Technologien eine gewisse Reifezeit benötigen – sowohl in Bezug auf ihre Fähigkeiten als auch auf ihre Anwendungsszenarien, ihren Nutzen und ihre Akzeptanz.

Wenn wir die Welt im Jahr 2020 betrachten, können wir viele schwache Signale erkennen, die das Potenzial bergen, die Wirtschaft, die Gesellschaft und das Leben insgesamt zu verändern und die Umrisse der Zukunft nach Covid-19 maßgeblich zu prägen. Wir finden diese Signale in vielen Bereichen – von der künstlichen Intelligenz bis hin zu Quantencomputern und Blockchain –, aber auch im Wandel der Art und Weise, wie wir unsere Geschäftsprozesse gestalten, z. B. im Homeoffice, und wie wir unser Alltagsleben führen.

Vielleicht ist gerade jetzt, wo so ein großer Teil des Wirtschaftslebens auf Eis liegt, der ideale Zeitpunkt, um neue Fragen zu stellen. Ich würde gerne die Frage einbringen, mit welcher geistigen Grundhaltung wir heute überhaupt an das Projekt der Imagination der Zukunft, die wir so rasant erschaffen, herantreten. Der US-amerikanische Universalgelehrte Noam Chomsky meinte einmal: »Wenn Sie nicht den Glauben haben, dass die Zukunft besser werden kann, werden Sie wahrscheinlich nicht aktiv werden und die Verantwortung dafür übernehmen, dass sie besser wird.« Daraus ergibt sich die folgende Frage: Was für Geschichten erzählen wir uns über die Zukunft, weisen sie auf eine bessere Zukunft hin – eine Zukunft, die wir mit Stolz besiedeln und künftigen Generationen weitervererben werden? Wenn jedoch nicht: Wie könnten neue Narrative aussehen, die wir in dem Raum erschaffen, die uns die Gegenwart bietet, um uns in eine wünschenswerte Zukunft voranzutragen? Was könnten wir tun, um jene schwachen Signale zu verstärken, die uns die Möglichkeit einer radikal anderen Welt zuflüstern?

Mit vollem Signal – jetzt nachhören!

Über schwache Signale, echte »Changes« und ein positives Zukunftsbild sprachen wir mit Pascal Finette auch im Podcast »Alles digital?!« (Folge #09). Der Podcast ist zu hören in der digitalen Mediathek der FI unter www.f-i.de/News/Mediathek/ sowie bei Spotify, Deezer, Apple und vielen anderen Podcast-Portalen.

 

Pascal Finette berichtet regelmäßig für das ITmagazin aus dem Silicon Valley. Er zählt zu den Internet-Pionieren in Deutschland und gründete in den 90er-Jahren ein Start-up. Es folgten Stationen bei Ebay und Google. Heute ist er Executive Director der Singularity University, einem kalifornischen Think Tank, der Bildungsprogramme entwickelt und Jungunternehmer »auf die digitale Revolution« vorbereitet. Mehr zu ihm unter www.finette.com.