Starker Trend oder schwacher Impuls?

Kolumne Pascal Finette

Pascal Finette berichtet regelmäßig für das ITmagazin aus dem Silicon Valley. Er zählt zu den Internet-Pionieren in Deutschland und gründete in den 90er-Jahren ein Start-up. Es folgten Stationen bei Ebay und Google. Heute ist er Executive Director der Singularity University, einem kalifornischen Think Tank, der Bildungsprogramme entwickelt und Jungunternehmer »auf die digitale Revolution« vorbereitet. Mehr zu ihm unter www.finette.com .

Von Pascal Finette

Wenn wir das ausgehende Jahr 2020 im Rückblick betrachten, sehen wir eine Welt, die sich verwandelt hat und weiterhin im Wandel ist. Auf die Systemerschütterungen durch die COVID-Krise folgten mehrere Wellen der Reaktion. Mit neuartigen, wenn auch nicht in jedem Falle erfolgreichen, Lösungen wurde auf die neuen Herausforderungen reagiert; die Märkte hatten einige Mühe, sich an die neue Realität anzupassen.

Inmitten all dieser Volatilität und Ungewissheit war das Jahr 2020 bisher eine faszinierende Zeit, in der es ganz besonders gilt, darauf zu hören, was die quantitative Zukunftsforscherin Amy Webb als die schwachen Signale beschrieb, die an der Peripherie sprechen. In diesem Jahr brach die Peripherie – der Grenzbereich dessen, was sein könnte, der sich an der Peripherie des wirtschaftlichen und kulturellen Mainstreams andeutet – mit großem Getöse plötzlich in den Mittelpunkt der Wahrnehmung. Die COVID-Krise gab einigen sich bis dahin gerade herauskristallisierenden Trends sowie schwachen Signalen einen dramatischen und wirkmächtigen Auftrieb. In einem radikal veränderten Ökosystem und unter neuem Selektionsdruck erwiesen sich einige vormals schwache Signale als starke Trends – zum Beispiel Zustelldienste für Lebensmittel, Trainingssysteme für zu Hause mit Social-Media- und Gamification-Komponente, ernstzunehmende Debatten über ein universelles Grundeinkommen sowie Bio-Monitoring unter Zusammenführung von Daten aus Big Tech und staatlichen Behörden. Einige weitere Signale zeichneten sich als prägende Merkmale einer neu entstehenden Systemlandschaft ab – wie etwa örtlich verteilte Teams/Mitarbeiterschaft, Telemedizin, Fernunterricht, toxische Desinformationskampagnen in den sozialen Medien und Schwächerwerden der Führungsrolle der USA in internationalen Beziehungen.

Im Rückblick fällt es leicht, Trends rational einzuordnen und sich vorzustellen, wie wir die Ereignisse hätten klarer erkennen sollen. Mitunter ist das eine gerechtfertigte Sichtweise, wenn die Trends ganz offensichtlich sind: „Selbstverständlich erhöht Zoom während eines 8-wöchigen Lockdowns die Anzahl seiner täglichen Nutzer um das 30-fache“. Manchmal ist eine derartige Einschätzung aber nicht fair, denn manch ein Trend ist nicht so einfach nachvollziehbar: „Natürlich führt der Zusammenbruch des Online-Sportwettengeschäfts zu einem massiven Zustrom an neuen risikosüchtigen Tageshändlern, die über Robinhood irrwitzige Summen auf sich erholende Aktientitel wie... Hertz wetten!“

Retrospektiv betrachtet mag vieles so klar aussehen. Doch wie steht es um die Weitsicht? Wie können wir im laufenden Jahr die ganze Bandbreite der vorhandenen Signale überblicken und sie einsortieren, um diejenigen herauszufiltern, die mit größerer Wahrscheinlichkeit zu wahrhaft disruptiven Trends werden?

Für eine effizientere Signalauswertung haben wir einen einfachen, praktischen Analyserahmen entwickelt. Er kombiniert unsere vorangegangenen Untersuchungen zur Annahme neuer Technologien mit einem ausgeklügelten Satz analytischer Linsen zur Bewertung neuer Produkt- und Dienstleistungsmöglichkeiten, die wir vom Blitzscaling-Guru Chris Yeh erlernt haben.

Damit eignet sich dieser Analyserahmen besonders gut zur Auswertung von Signalen, die mögliche Lösungen in relativ klar definierten Problem-/Chancenfeldern vorschlagen, z.B. die Einbindung virtuell-autonomer Agenten in Unterhaltungsmedien oder der Aufstieg von Social-Media-Plattformen, die neuen/„alternativen“ Extremisten ein Sprachrohr bieten, während die etablierten Giganten unter dem verstärkten Druck der Werbetreibenden ernsthaft mit dem Ausschluss von Platforming beginnen.

In diesem Zusammenhang seien fünf Faktoren zur Beurteilung vorgeschlagen – jeder von ihnen mit einer einschlägigen Leitfrage.

TIMING — Ist die prognostizierte mögliche Lösung problemlos verfügbar und potenziell skalierbar? Falls sich erforderliche Werkzeuge und/oder Technologie noch im Entwicklungsstadium befinden, wo befinden sie sich auf der Lernkurve der Innovation? Als COVID ausbrach, war die Telemedizin bereit, sich explosionsartig zu entfalten, da die erforderliche Technologie bereits seit Jahren allgemein verfügbar war. Andererseits und allen optimistischen Prognosen zum Trotz scheint VR – wieder einmal – zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht wirklich bereit gewesen zu sein.

GESTALT — Welches wären die begünstigenden äußeren Umstände, die erst eintreten müssten, damit diese Lösung für das zu behandelnde Problem geeignet wäre? Was muss noch zutreffen, damit dieses Signal seine volle Kraft entfalten kann? Versuchen Sie herauszufinden, was wir als die „Gestalt“ des Kipppunktes bezeichnen, an dem etwas, das bisher eine neuartige Ausnahmeerscheinung war, nicht mehr wegzudenken ist. Gehen Sie in Gedanken die STEEPS-Dimensionen durch: Welche wissenschaftlichen und technologischen Durchbrüche sind noch erforderlich? Was muss hinsichtlich des ökologischen und ökonomischen Kontextes oder der zukünftigen Auswirkungen zutreffen, damit speziell diese Möglichkeit realisiert werden kann? Welche politischen und sozialen Rahmenbedingungen müssen sich ändern? Wenn Sie in stark regulierten Umfeldern, d. h. Gesundheitswesen, Biotechnologie oder Finanzdienstleistungen, schwache Signale beobachten, sind diese Fragen von ganz besonderer Bedeutung.

FREQUENCY — Wie oft finden wir uns mit dem Problem konfrontiert? Wenn eine permanente Umstellung auf eine Telearbeitslösung meinen Mitarbeitern jeden Tag zwei Stunden Zeit schenkt, die sie vorher regelmäßig für Pendelfahrten in der San Francisco Bay Area eingebüßt haben, dann können Sie darauf wetten, dass die Mitarbeiter bereit sein werden, diese Lösung als ein dauerhaftes Merkmal ihrer Arbeitsumgebung zu akzeptieren.

DICHTE — Wie lange/tiefgehend befassen wir uns mit dem Problem? Bleiben wir vorerst bei der Telearbeit: Mitarbeiter, die auf digitale, dezentralisierte Arbeitsformen umgestellt haben, arbeiteten plötzlich viel länger von zu Hause aus als bis dahin. Lösungen, die eine rasche Optimierung des Heimatarbeitsplatzes versprachen hatten ihre Sternstunde.

REIBUNG — Wie sehr leiden wir unter dem Problem? Wenn die Erfahrung, dass keine Lösung vorhanden ist, hinreichend schlimm ist, können sich Hindernisse für die Entwicklung und Akzeptanz eines Lösungsansatzes als poröser erweisen oder vollständig wegfallen. Wir sehen dies in der forcierten Anwendung von KI-Tools bei der Erforschung der Behandlung von COVID und in der sprunghaft beschleunigten Weitergabe von Daten und Forschungsergebnissen vor der Veröffentlichung in Medizin und Wissenschaft. Um es mit einem kontrafaktischen Beispiel zu illustrieren: In der sanften Dystopie einer von COVID geprägten Welt reichten soziale Distanzierung, Videokonferenzen und TikTok aus, um uns zu helfen, die Lücke zu füllen, die durch die Reduzierung menschlicher Kontakte entstand; in einem radikalen, deutlich schwerwiegenderen dystopischen Szenario. Nun, da könnten wir vielleicht doch noch alle dazu veranlasst werden, die Virtuelle Realität (VR) zu akzeptieren.

Wenn der Zeitpunkt stimmt oder zumindest annähernd stimmig erscheint und Sie die Konvergenz förderlicher Rahmenbedingungen erkennen können, dann hat Ihre als schwaches Signal erkennbare Lösung eine viel größere Chance, zu einem tragfähigen Produkt oder einem vermarktbaren Trend zu werden – vor allem, wenn sie ein Problem oder einen Bedarf anspricht, das bzw. der sich durch hohe Frequenz-Dichte-Reibung auszeichnet.

Wenn Sie diesen intuitiven Analyserahmen für Ihre Beurteilung nutzen, wie gegenwärtige Signale auf mögliche Zukunftsszenarien hindeuten, werden Sie besser in der Lage sein, Kontextinformationen und Marktdaten zu verwerten, um echte Chancen und verlässliche Zeitfenster zum Handeln zu erkennen.

Und auch wenn Ihre Zukunftsprognosen nicht zu 100 Prozent zutreffen werden, sollte Ihre Aussicht darauf, was im Jahr 2020 noch zu erwarten ist, deutlich klarer sein.