Die Kolumne von Pascal Finette

Message from Silicon Valley

Pascal Finette berichtet regelmäßig für das ITmagazin aus dem Silicon Valley. Er zählt zu den Internet-Pionieren in Deutschland und gründete in den 90er-Jahren ein Start-up. Es folgten Stationen bei Ebay und Google. Heute ist er Executive Director der Singularity University, einem kalifornischen Think Tank, der Bildungsprogramme entwickelt und Jungunternehmer »auf die digitale Revolution« vorbereitet. Mehr zu ihm unter www.finette.com

ITmagazin 4/2018

Disruption – zwischen Hype und Realität  

Von Pascal Finette 


»Disruption« war eines der absoluten Trendwörter des Jahres 2018. Der Begriff erweckt zugleich Angst und Aufregung und ist zu einem festen Bestandteil einer jeden Präsentation geworden. Verwendet wird es, um das Untergangsszenario eines beliebigen Unternehmens zu beschreiben – in aller Regel mit dem klaren Ziel, es dazu zu bewegen, eine Dienstleistung oder ein Produkt von der Person zu kaufen, die »Disruption « in einem Meeting oder auf einer Bühne in den Diskurs einführte. Dabei ist das Wort mittlerweile zum »Tofu« geworden – einen erkennbaren Eigengeschmack hat es nicht, aber es nimmt den Geschmack jeder Soße an, die sie drüberkippen. An der Singularity University bemühen wir uns nach Kräften, einen großen Bogen um zu starke Vereinfachungen oder gar um Ein-Faktoren-Erklärungsmodelle zu machen. In Hunderten von Interviews mit Praktikern und unter Rückgriff auf die großartige Analyse von Ben Thompson haben wir drei Kräfte identifiziert, die zu Disruption in Unternehmen führen:

 

1. Innovation hat immer mehr als eine Eigenschaft

Wenn eine Erfindung Disruptionen auslöst, geht es nie um ein einzelnes Ding – eine derartige Erfindung ist die geniale Verbindung vieler unterschiedlicher Merkmale in einem einzigartigen Paket. Als das Smartphone in Gestalt des iPhone den Markt neu aufrollte, kombinierte es Durchbrüche in der Mikroprozessorentechnik mit einem innovativen Touch-Screen, der mit mehreren Fingern bedient werden konnte, kraftvollen Akkus und einem leistungsstarken Betriebssystem. Dass es etablierten Anbietern auf dem Markt oft schwerfällt, solche individuellen Merkmale in ein wettbewerbsfähiges Paket zu packen, liegt an

 

2. Ihre vorhandenen Fähigkeiten und Prozesse spielen keine Rolle mehr

Die größtmögliche Herausforderung für ein etabliertes Unternehmen ist, wenn seine feinziselierten Fähigkeiten und sauber eingeschliffenen Prozesse plötzlich einer neuen  Realität nicht mehr entsprechen. Ein bekanntes Beispiel: Kodak verfügte über die besten Fertigkeiten und Fertigungsprozesse, um im wahrsten Sinne des Wortes bildschönes Filmmaterial herzustellen und zu entwickeln (ein chemischer Vorgang). In der Welt der Digitalfotografie verloren diese Fertigkeiten jedoch vollständig ihren Wert. Nokia dagegen war ein Hersteller von exzellenten Mobiltelefonen – doch das iPhone ist (obwohl es sein Name noch vermuten lässt) kein bloßes Telefon mehr, sondern ein Computer im Taschenformat. Noch schädlicher ist allerdings, dass das bloße Vorhandensein solcher obsolet gewordener Fähigkeiten typischerweise einen starken inneren Abwehrreflex gegen alles Neue und Andersartige auslöst.

 

3. Mit dem finalen Schritt auf den Markt geraten Disruptionen fast immer an einen Umkehrpunkt

Wenn die Märkte sich von einer etablierten Lösung ab- und zu etwas Neuem hinwenden, dann geschieht das nicht im Labor oder im Konferenzraum und auch nicht aufgrund der technischen Überlegenheit einer bestimmten Lösung, sondern durch die geschickte Kombination der vier Ps: Produkt, Preis, Platzierung und Promotion. Der Verkauf des iPhone in den eigenen, stark frequentierten Geschäften des Herstellers anstelle der damals üblichen Vertriebskanäle (kleine, dunkle Handy-Shops in Einkaufszentren) signalisierte deutlich, dass hier eine neue Ära anbrach und das Telefon kein Telefon mehr war. Das Silicon Valley Start-up Stripe wurde zu einem wichtigen Player in der elektronischen Zahlungsbranche, indem es Software-Entwicklern die Integration ihres Zahlungsdienstes in ihre Anwendungen sensationell einfach machte – und damit ein Publikum ansprach, um das sich kein anderer Zahlungsdienstleister kümmerte. Ich empfehle Ihnen wärmstens, Ihren Blick nicht von Worthüllen ablenken zu lassen und zu erkennen, worum es wirklich geht, indem Sie First-Principles-Denken anwenden, der Materie auf den Grund gehen und die entscheidenden Faktoren analysieren. Die gute Nachricht: Das ist in den seltensten Fällen kompliziert; es bedeutet lediglich harte Arbeit. Oder wie man im Silicon Valley sagt: »Geben Sie sich Mühe und begreifen Sie die Disruption oder Sie werden von ihr ergriffen.«