Kolumne von Pascal Finette

Message from Silicon Valley

Auf der letztjährigen FI-Connect hielt er einen vielbeachteten und überaus spannenden Vortrag: »2029 – das Jahr, das alles ändern wird.« Pascal Finette versteht es wie kein Zweiter, die Veränderungen, aber auch Herausforderungen, die die Digitalisierung mit sich bringt, anschaulich und interessant darzustellen. Der gebürtige Kölner, Jahrgang 1973, machte seine ersten beruflichen Schritte in der IT und ist heute Leiter des Start-up-Programms der kalifornischen Singularity University. Seit 2008 lebt er mit seiner Familie im Silicon Valley und damit direkt am Puls der weltweit führenden Hard- und Softwareunternehmen. Dort entstehen viele der neuen Ideen und Entwicklungen, die sich morgen schon weltweit verbreiten könnten. Wir haben ihn gebeten, darüber exklusiv und regelmäßig für das ITmagazin aus dem Silicon Valley zu berichten. Viel Spaß beim Lesen der ersten »Message from Silicon Valley«.

ITmagazin 1/2018

Von Pascal Finette

»Mögest Du in interessanten Zeiten leben!«. Dieses etwas frei übersetzte chinesische Sprichwort hört man oft im Silicon Valley. Manch einer würde sogar schon so weit gehen, es als Fluch zu interpretieren. Fluch oder Segen? Jedenfalls wird niemand den Wahrheitsgehalt des Satzes leugnen, wenn es um den Wandel geht, den die Technologie in unsere Welt bringt. Mit der exponentiell zunehmenden Geschwindigkeit des technologischen Fortschritts vorangetrieben, haben wir heute Supercomputer (im wahrsten Sinne des Wortes) in der Tasche und auf Knopfdruck Zugang zur Informationsfülle der Welt. Die Prophezeiung von Gordon Moore, dass sich »die Anzahl der Transistoren in einem komplexen integrierten Schaltkreis etwa alle zwei Jahre verdoppelt« (allgemein als Mooresches Gesetz bekannt), ist mittlerweile 50 Jahre alt. Sie hat sich nicht nur bis zum heutigen Tage als zutreffend erwiesen, sondern sie lässt sich längst auf andere Technologien und Industrien übertragen: Ihr bereits stark in die Jahre kommendes iPhone 5s hat die 1000-fache Rechenleistung eines Cray-1-Supercomputers aus der Mitte der 70er Jahre – und dies bei etwa 1/50.000stel der Kosten – die Preis-/Leistungssteigerung um den Faktor 50 Mio. ist schlichtweg atemberaubend. All diese Fortschritte, die sich in immer schnellerem Tempo vollziehen, schaffen eine Fülle neuer Möglichkeiten und wirbeln bestehende Märkte schneller und energischer auf als je zuvor. Dieser wahrhaft unglaublichen (und revolutionären) Transformation liegen die Kräfte der Digitalisierung zu Grunde: Einerseits in der Form der Umwandlung von ehemals analogen in digitale Inhalte und andererseits in Form der Nutzung digitaler Technologien zur Veränderung eines Geschäftsmodells und zur Erschaffung neuer Umsatz und Wertsteigerungsmöglichkeiten. Bei näherer Betrachtung lassen sich aus meiner Sicht 9 Grundprinzipien der Digitalisierung (»the 9Cs«) erkennen:

1. Kopierfähigkeit (Copyable)
Es können perfekte, keiner Abnutzung unterliegende Kopien erzeugt werden.

2. Veränderbarkeit (Changeable)
Präzise, reproduzierbare Abänderungen können vollzogen werden.

3. Steuerbarkeit (Controllable)
Jede Änderung, die Sie vornehmen, können Sie steuern und messen.

4. Konnektivität (Connectable)
Ihr Erzeugnis lässt sich mit anderen verbinden.

5. Rechnerbasiertheit (Computational)
Sie können Rechenleistung nutzen, um Änderungen vorzunehmen und um diese zu messen.

6. Geschwindigkeit (Celerity)
Schnelligkeit entfaltet eine Hebelwirkung.

7. Kosten (Cost)
Ihre Vervielfältigungs- und Vertriebskosten gehen gegen Null.

8. Zirkularität (Circularity)
Sie können Kreislaufsysteme mit freiem Datenfluss erstellen.

9. Kollaborationsfähigkeit (Collaborative)
Sie können einfach mit anderen zusammenarbeiten und gemeinsam gestalten.

Diese inhärenten Eigenschaften bekommen Sie, sobald etwas digital wird. Die Nutzung dieser Eigenschaften ermöglicht es Ihnen, neue Produkte zu entwickeln und in etablierten Geschäftsmodellen für Wirbel zu sorgen. Ich möchte Ihnen gerne ein einfaches Beispiel nennen: Musik. Als die Musik digital wurde, führte die Möglichkeit, perfekte, keinem Verschleiß unterliegende Kopien zu erstellen (Kopierfähigkeit), die einfach und fast ohne Zeitverzögerung geteilt werden konnten (Anschlussfähigkeit und Geschwindigkeit) und kostengünstig bis kostenlos verfügbar waren (Kosten), zunächst zum Aufkommen von File-Sharing-Plattformen wie Napster und später zu iTunes. Die wohl größte und revolutionärste Neuerung am Geschäftsmodell von iTunes war der 99-Cent-Song, der uns von der Verpflichtung befreite, ganze Alben zu kaufen.

Später nutzte Spotify die Möglichkeit, eine gigantische Songbibliothek mit den Datenflüssen der Hörer zu verbinden (Konnektivität), um ein eigenes Abonnementmodell auf der Basis eines überlegenen Empfehlungsalgorithmus zu etablieren (Zirkularität). Und einige Unternehmen experimentieren bereits heute mit Möglichkeiten, um Songs rechnerisch so zu modifizieren, dass ihre Maschinen völlig neue und individuelle Songs nur für Sie kreieren können (Rechnerbasiertheit, Steuerbarkeit) – Sie wollen zwar eigentlich U2 hören, mögen aber lieber die Stimme von Madonna? Bald wird ein Computer in der Lage sein, die richtige Soundmischung für Ihren persönlichen Geschmack zu erstellen. Der Schlüssel zu einer (erfolgreichen) Digitalisierungsstrategie liegt darin, die grundlegenden Eigenschaften zu verstehen und bei der Entwicklung im Auge zu behalten: Betrachten Sie das Business, in dem Sie gerade aktiv sind oder in das Sie einzusteigen gedenken und spielen Sie Szenarien für jedes der genannten 9 Grundprinzipien durch – Sie werden überrascht sein, welche Möglichkeiten sich bieten.