Andreas Steinle

Produktive Paranoia

»Ein gesundes Mass an Paranoia ist gut geeignet zur Zukunftsbewältigung.«

Im Fokus

Produktive Paranoia

 

Wenn Sie sich aktuell gerade etwas paranoid fühlen, so muss das kein Anlass zur Sorge sein. Im Gegenteil: Wenn dieser Zustand in eine produktive Richtung gelenkt werden kann, ist ein gesundes Maß an Paranoia zur Zukunftsbewältigung gut geeignet.

Diese – zugegeben etwas irritierende – These vertritt Andreas Steinle, der Gründer und Geschäftsführer der Zukunftsinstitut Workshop GmbH. In seiner Arbeit beschäftigt er sich intensiv mit der Fragestellung, welches Mindset für die Herausforderungen der Zukunft benötigt wird. So viel vorweg: Es braucht einen anderen Umgang mit der zunehmenden Unplanbarkeit, den größeren Risiken und den sich damit eröffnenden Chancen.
Die Dekade der 2020er ist für Steinle der Startschuss für große Umwälzungen in Gesellschaft und Wirtschaft – vor allem in technologischer Hinsicht: „Science Fiction is becoming Science Fact“. Das, was vor vielen Jahrzehnten in Science-Fiction-Romanen erdacht wurde, wird allmählich Teil unserer Alltagsrealität. In Island gibt es bereits einen ersten Lieferservice, der im regulären Betrieb die Pizza per Drohne ausliefert. In Singapur kam kürzlich das erste im Labor gezüchtete Fleisch auf die Speisekarte eines Restaurants. Kostete ein Burger-Bratling, der aus Muskelzellen im Labor gezüchtet wurde, vor zehn Jahren noch rund 250.000 Dollar, ist der Preis nun auf rund 25 Dollar gesunken.

Viele Technologien entwickeln sich aktuell exponentiell. Damit sinken auch die Preise in unvorstellbarem Maße. Insbesondere durch den Einsatz Künstlicher Intelligenz lassen sich Prozesse automatisieren und damit günstiger machen. Das gilt vor allem für die Finanzindustrie. Der chinesische Versicherungskonzern Ping An, der zu den zehn größten Unternehmen der Welt gehört, hat im Kfz-Bereich eine vollautomatisierte Regulierung von Blechschäden eingeführt. Innerhalb von 168 Sekunden lassen sich so Schadensfälle ohne menschliches Zutun abwickeln. Weit mehr als die Hälfte aller Unfälle lassen sich so mittlerweile bearbeiten. Auf die Frage, was mit Firmen passiert, die Künstliche Intelligenz nicht zu nutzen wissen, antwortete unlängst Professor Erik Brynjolfsson, Direktor des Instituts für Digitale Ökonomie am MIT, Cambridge, USA: „Die Firmen, die es geschnallt haben, hängen ihre Wettbewerber völlig ab.“

Angesichts solcher Entwicklungen kann in mancher Chef-Etage schon mal Paranoia ausbrechen. Zu Recht: Der Wettbewerb wird größer und die Notwendigkeit, neue Technologien in Prozesse und Geschäftsmodelle zu integrieren, dringlicher. Die Kunst, so Steinle, ist es nun, dieses Gefühl von Verunsicherung und Bedrohung in eine produktive Richtung zu lenken. Dabei hilft uns die menschliche Neugier. Sie ist gewissermaßen der Meta-Skill für die wachsenden Herausforderungen in der Zukunft. Die Neugier ist für die Unternehmensperformance viel wichtiger, als man bisher glaubte. Denn sie hilft Führungskräften wie Angestellten, sich an unsichere Marktverhältnisse und äußeren Druck anzupassen. Doch wie der „State of Curiosity“-Report des Darmstädter Technologie- und Wissenschaftskonzerns Merck herausfand: Nur neun Prozent der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer meinen, dass an ihrem Arbeitsplatz die Neugier sehr gefördert wird.
Es gibt also viel zu tun in den Unternehmen und laut Steinle beginnt dies auf Führungsebene. Er verweist auf eine Langzeitstudie des US-Forschers Jim Collins, der das Management von Unternehmen analysiert hat, die auch in Krisenzeiten eine überdurchschnittliche Performance an den Tag legten – die sogenannten 10xer. Diese haben es geschafft, den Benchmark in vielen Aspekten um den Faktor 10 zu schlagen, beispielsweise bei der Gewinn- oder Umsatzentwicklung. Die Führungskräfte dieser Unternehmen sind keineswegs charismatischer, besonders ambitioniert oder lieben das Risiko. Was sie jedoch auszeichnet, ist eine stete Unruhe, eine wichtige Entwicklung übersehen und den Anschluss verpassen zu könnten – also eine große Angst, dass der Wettbewerb an ihnen vorbeizieht. Amazon-Gründer Jeff Bezos ist hierfür ein gutes Beispiel. In seinen letzten Führungstreffen hat er immer wieder betont, dass Amazon eines Tages vom Markt verschwinden wird. Gerade weil man eine marktdominante Position hat, sollte man sich nicht zu sicher fühlen.
Diese Paranoia lenken die 10xer in eine produktive Richtung. Sie zeichnen sich durch eine unbändige Neugier aus, mit der sie den Dingen auf den Grund gehen. Dafür tauschen sie sich mit Menschen aus, die anderer Meinung sind und neue Perspektiven einbringen. Und dann beginnen sie, am Markt zu experimentieren. Sie stellen Hypothesen über die Zukunft auf. Zum Beispiel: Im anbrechenden Metaversum gibt es nicht nur einen Markt für digitale Kleider (sogenannte Skins), sondern auch für virtuelle Essenslieferungen. Durch Experimente im Kleinen finden die 10xer heraus, ob diese Annahmen richtig oder falsch sind. Und dann skalieren sie mutig - oder lassen es bleiben.
In allen Unternehmen werden es die Führungskräfte mit einer größeren Unplanbarkeit zu tun haben. Keiner kann die Entwicklungen in globalen, komplexen Märkten voraussehen. Dieser Unsicherheit lässt sich nur mit größerer Neugier, viel mehr Experimenten und Zukunftsmut begegnen.

 

 

Andreas Steinle, Geschäftsführer der im Jahr 2014 von ihm gegründeten Zukunftsinstitut Workshop GmbH.

Er berät Unternehmen in der Fragestellung, wie sie ihre Zukunftsfitness verbessern können. Sein Karriereweg führte ihn vom Hamburger Trendbüro nach Frankfurt zum Zukunftsinstitut mit Zwischenhalt in New York, wo er im Rahmen seiner internationalen Trendrecherchen arbeitete. Andreas Steinle ist ein gefragter Redner, der seine Inhalte rhetorisch eloquent präsentiert. Als Innovationsberater wurde er 2016 in den internationalen »Curiosity Council« des Wissenschafts- und Technologiekonzerns Merck berufen. Er ist Autor mehrerer Bücher und Studien. Seinen Abschluss als Dipl.-Kommunikations- wirt machte er an der Hochschule der Künste Berlin, am Institut für Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation

Zitat

»DIE MENSCHLICHE NEUGIER IST WOMÖGLICH DAS AM MEISTEN UNTERSCHÄTZTE ASSET.«

Im Gespräch

Woran denken Sie, wenn Sie den Begriff Zukunft hören?

Beim Begriff Zukunft denke ich an einen Gestaltungsraum, der sich vor uns auftut. Häufig wird Zukunft als das Ergebnis von externen Dynamiken wahrgenommen, auf die wir keinen Einfluss haben. Dabei vergessen wir: Der größte Einflussfaktor liegt in uns selbst – in unseren Visionen, die wir entwickeln – in den Plänen, die wir machen – und in den Taten, die wir umsetzen. Immer wieder haben einzelne Menschen wichtige Veränderungen maßgeblich vorangetrieben – nicht, weil sie besonders viel Geld oder Macht hatten, sondern weil sie eine Bewegung angestoßen haben. Greta Thunberg (Fridays for Future) ist hierfür das beste Beispiel. Nicht jeder von uns wird eine globale Initiative lostreten, doch wir haben viel mehr Gestaltungsmöglichkeiten, als die meisten von uns glauben. Sich dessen bewusst zu werden, ist der erste Schritt, Zukunft aktiv zu gestalten.

 

Wie gelingt das?

Es braucht Neugier. Die menschliche Neugier ist womöglich das am meisten unterschätzte Asset. Das gilt für uns als Individuen als auch für Organisationen. Die Neugier hilft uns dabei, mit Unsicherheit besser umzugehen und durch einen offenen Geist zu neuen Lösungen zu kommen. Aus der Forschung wissen wir, dass die sogenannte „work related curiosity“ einen zentralen Einfluss auf die Innovationskraft und den Erfolg eines Unternehmens hat. Im Rahmen eines professionellen Neugier-Managements lässt sich die Neugier aktiv fördern und trainieren. 

 

Aus reiner Neugier:

Was ist eine der gesellschaftlichen Fragen, die die Menschen in zehn Jahren umtreibt?

In zehn Jahren wird die Welt eine andere sein. Aus der Zukunftsforschung wissen wir, dass wir uns vor Prognosen hüten sollten, die aktuelle Entwicklungen linear fortschreiben. Es wird im Verlauf „Schwarze Schwäne“ geben, also völlig unerwartete Ereignisse, die das Weltgeschehen disruptiv verändern – so wie zuletzt die Corona-Pandemie. Wenn wir über Zukunft nachdenken, steht für viele meist die Technik im Vordergrund. Zum Beispiel die Entwicklung von Flugtaxen. Aktuell arbeiten weltweit mehr als 100 Unternehmen an „Self Flying Air Taxis“. In zehn Jahren werden sie sicherlich zu unserem Alltag gehören. Aber das ist nicht das, was für die Menschheit wirklich relevant ist. Okay – es wird schon viel Spaß machen, in einem Flugtaxi zu sitzen. Aber letztlich beschleunigt es nur den Transfer von A nach B ein wenig.

Viel wichtiger sind die Innovationen im Sozialen. Schaffen wir es, den „Gender Pay Gap“ zu beseitigen, also die ungleiche Bezahlung von Männern und Frauen? Wie lehren wir an den Schulen das Lernen? Wie bringen wir Erwachsenen ihre kindliche Neugier zurück, damit sie in einer Welt der Unplanbarkeit besser zurechtkommen? Wir werden in den 2020ern zwar eine Phase der technologischen Disruption erleben – und dennoch sind es die sozialen Fragen, die uns in zehn Jahren umtreiben und für die wir neue, innovative Lösungen brauchen.

 

 

Im Kopf

Neugier

Zukunft braucht Neugier. Sie ist der Treibstoff für Veränderung und Innovation. Gemeint ist die epistemische Neugier - der Drang nach neuem Wissen und dessen Aneignung. Epistemische Neugier wird heute als Persönlichkeitsmerkmal gesehen. In ihr bündeln sich Verhaltensweisen wie die Lust, Neues zu entdecken, zu lernen sowie die Freude am Lösen von Problemen – lauter Eigenschaften, die als Kernkompetenzen moderner Führungskräfte und Mitarbeiter gebraucht werden. Denn ohne diese Skills lässt sich Zukunft nicht gestalten. Neugierige Menschen zeichnen sich durch Entdeckensfreude aus und sind offen für die Ideen anderer. Sie haben eine größere Stresstoleranz und suchen auch dann noch nach Lösungen, wo die meisten schon aufgegeben haben. Neugierige Menschen warten nicht darauf, dass jemand ihre Zukunft gestaltet. Sie nehmen diese lieber selbst in die Hand. Wenn wir also die Neugier fördern und trainieren, ergeben sich wünschenswerte Zukünfte ganz von alleine.