Pascal Finette

Und plötzlich ändert sich alles

»Das Wort Disruption sollte man aus dem Wortschatz streichen und durch Transformation ersetzen.«

Im Fokus

Und plötzlich ändert sich alles

Praktischen Futurismus, das verspricht Pascal Finette. Er spricht von Zukünften statt Zukunft, von schwachen Signalen, Exponentialkurven und State Changes.

 

Heute, bald, optimistisch, merkwürdig – Zukunft kann vieles sein. Als Zukunftsforscher könne er die Zukunft nicht vorhersehen, sagt Finette. Und generell sollte man eher von Zukünften sprechen, im Plural. Dabei unterscheidet er zwischen Zukünften, die wahrscheinlich sind, und solchen, die möglich seien. Denn Zukunft schreibt sich nicht als Extrapolation der Gegenwart einfach so fort. Stattdessen gibt es viele Möglichkeiten, wie Zukunft aussehen kann.

 

Wenn eine neue Zukunft beginnt, beschreibt Finette das als sogenannten State Change, als Veränderung eines Zustands. Er vergleicht das mit Aggregatzuständen aus der Chemie. Die Dinge um uns herum verändern sich – aber nicht auf allen Ebenen. Das, was wir tun (wollen), bleibt oft gleich. Das Wie definiert den neuen Zustand. Finette verdeutlicht dies am Beispiel des Filmverleihs. Früher mussten Kund*innen eine Videothek besuchen, um eine Videokassette auszuleihen und einen Film zu Hause ansehen zu können. Der Filmverleih war abhängig von der Fähigkeit, gute Räumlichkeiten für Videotheken ausfindig zu machen, um einen möglichst großen Kund*innenkreis anzuziehen. Mit dem Aufkommen von DVDs konnten Filme plötzlich in Briefumschlägen nach Hause verschickt und nach dem Ansehen von Kund*innen in den Briefkasten geworfen und zurückgesendet werden. Das Geschäftsmodell war abhängig von logistischen Strukturen und nicht mehr von gut angebundenen Videotheken. Heute wiederum sind Streamingdienste omnipräsent und das Ausleihen eines Films funktioniert von der Wohnzimmercouch aus: Smart-TV, Laptop oder Tablet einschalten, die Mediathek per App öffnen und losstreamen. Die Frage, die Finette aufwirft, stellen sich sicherlich noch mehr Menschen: Was kommt als nächstes? Beziehungsweise: Wie?

 

Um Zukünfte antizipieren zu können, muss man die Schaufeln auspacken und beginnen zu graben, um sogenannte Schwache Signale, also Indikatoren für Wandel, zu entdecken. Zukunft wird oft als Exponentialkurve dargestellt. Eigentlich, sagt Finette, sind die Entstehung der Zukunft und der Übergang von einem Zustand in den nächsten jedoch vor allem ein Wechselspiel aus sanfter, gradueller Entwicklung und plötzlichem Umschwung. Er bezeichnet das als Hemingway Law of Motion: „Gradually, then suddenly“. Um von einem plötzlichen Umschwung nicht überrascht zu werden, muss man aufmerksam Veränderungen beobachten. So könne man den Beginn der Exponentialkurve erkennen. Wann immer wir etwas Neues entdecken, können wir uns die simple Frage stellen: Was ist das für ein schwaches Signal? Was bedeutet das, was ich hier sehe? So kann man einer möglichen oder gar wahrscheinlichen Zukunft einen Schritt näherkommen.

Und was ist mit Disruption, von der wir so oft sprechen, wenn es um Zukunft und den vermeintlich überraschenden Übergang von einem Zustand in den nächsten geht? Wenn man aufmerksam hinschaut, kann man die graduelle Entwicklung wahrnehmen, die einen State Change einläutet. Disruptionen kommen für das geübte Auge weniger unerwartet. Das Wort „Disruption" solle man also am besten aus dem Wortschatz streichen und durch „Transformation“ ersetzen, so Finette. Den Wandel beobachten, heute herausfinden, was morgen wichtig wird und im eigenen Wirkkreis die Zukunft hineintransformieren. 

 

 

Pascal Finette ist Mitbegründer von be radical, Vorsitzender des wavespace Advisory Board von EY und Mitglied des Digital Advisory Board von Pearson.

Zuvor hatte er Führungspositionen bei Google.org, Mozilla und eBay inne, baute Technologie-Start-ups auf und gründete eine Risikokapitalfirma. Er ist der Anführer der Gruppe TheHeretic.org und ein Vorreiter, wenn es darum geht, sinnvolle Veränderungen zu schaffen.

Zitat

»ES GIBT EINE UNENDLICHE ANZAHL VON ZUKÜNFTEN.«

Im Gespräch

Woran denken Sie, wenn Sie den Begriff Zukunft hören?

Ich denke zunächst einmal an den Plural: Zukünfte. Viele Leute haben diese Idee der offiziellen Zukunft. Tatsächlich gibt es eine unendliche Anzahl von Zukünften, die im Grunde nur durch die Grenzen des Möglichen beschränkt sind. Man muss sich von dem Gedanken lösen, dass Zukunft passiert. Das größte Problem, das wir mit dem Thema haben, ist, dass wir zu wenig darüber nachdenken, wie wir sie aktiv gestalten können – als Menschen, als Unternehmer, als Gesellschaft. Wir brauchen vor allem positive Visionen für die Zukunft. Wenn uns diese Visionen fehlen, können wir auch keine positive Welt entwickeln.

 

Reisen wir mal in eine mögliche Zukunft:

Was wird sich in zehn Jahren verändert haben?

Wir haben gelernt, dass viele Dinge sich langsamer bewegen, als man denkt – und viele Dinge sich schneller bewegen, als man denkt. Beispiel Blockchain: Es gibt unglaublich viel Hype, aber abgesehen von diesen crazy NFT-Themen (Non-Fungible Token) tut sich da nichts. Auf der anderen Seite stellt Steve Jobs im Jahr 2007 das iPhone vor und das verändert die Welt dramatisch. Deswegen lautet für mich die große Frage: Welche der Technologien, die wir heute sehen, sind ausreichend reif und skalierbar, um in zehn Jahren Massenanwendung zu finden? Wir werden noch mehr Digitalisierung sehen. Alles wird flüssiger, schneller und einfacher. In zehn Jahren haben wir noch mehr digitale Geräte. Dabei werden wir nicht mehr so viel auf Screens, sondern eher in Screens gucken. Dann könnte die Brille, die wir gerade tragen, ein Portal in eine andere Welt hinein sein.

 

Was wäre, wenn wir die analoge nicht mehr von der digitalen Welt unterscheiden könnten?

Das Thema des Metaverse ist momentan das große Hype-Thema. Viele von uns verbringen jetzt schon mehr als 50 Prozent unserer Zeit in der digitalen Welt. Sie ist nur flach. Was wäre, wenn ich künftig eine neue, digitale Informationsschicht direkt auf meine analoge Welt legen könnte? Dann gäbe es z.B. Restaurantbewertungen aus meiner Karten-App, die ich in der analogen Einkaufsstraße sähe. Im Grunde würden so analog und digital verschmelzen. Als Gegenbewegung zu dieser Informationsüberfrachtung könnten wir überlegen, wie die analoge Welt durch digitale Technologien gefiltert werden könnte. Dann säßen wir in einem menschengefüllten Café, hätten unsere digitalen Brillen auf, würden unsere Kopfhörer einschalten und auf einmal verschwindet die gesamte Welt. Es sind nur noch du und ich, die sich unterhalten. Wir hätten gewissermaßen eine Reduced Reality.

 

Welche Chancen bieten digitale Entwicklungen für die Finanzwelt?

Wenn wir das Bankwesen ansehen, wird es in Zukunft völlig normal sein, dass wir unsere Bankgeschäfte komplett digital abwickeln. Die Frage lautet hier: Wie können wir dem Kunden Informationen geben und ihn aktiv so an seiner Finanzplanung teilhaben lassen, dass eine anregende Interaktion entsteht? Viele der doch recht komplexen Themen sollte man einfacher für den Kunden rüberbringen, z.B. bei der Datenvisualisierung. Für mich ist Convenience das große Thema. Finanzen sollten Spaß machen!

Über Zukunft nachdenken

Zukünfte

Wir sprechen oft von der Zukunft. Darin manifestiert sich die Annahme, dass es Zukunft nur im Singular gibt. Tatsache ist jedoch: Zukunft steht nicht fest, bis sie gegenwärtig wird. Es gibt unendlich viele mögliche Zukünfte. Als in der Gegenwart Handelnde haben wir einerseits die Möglichkeit, durch unser Handeln eine bereits sichtbare und viel diskutierte Zukunft zu stärken. Andererseits können wir uns aber auch dazu entscheiden, neue positive Zukunftsvisionen zu formulieren, die uns zum Handeln motivieren. Zukunft passiert nicht. Sie wird gemacht.